Prolog
Lass die Fenster auf Durchzug.Auch im Winter. Ich brauche viel Luft. Und das Licht, das Radio, lass beides an. Dunkelheit und Stille sind eine Qual für mich, wer will mir das verdenken? Jedem in meiner Lage ginge es so. Eine Lage, in die du mich gebracht hast. Das macht es dir jetzt unmöglich, weg zuhören, wenn ich durch deine Träume schleiche, um dir wieder und wieder meine Geschichte zu erzählen.
Ich hatte viel Pech. Ein Soldat auf Heimaturlaub, zur falschen Zeit am falschen Ort. Es war kurz vor Ostern, die Nacht zum Palmsonntag im dritten Kriegsjahr, und die deutschen Städte standen unversehrt. Gegen zehn Uhr am Abend kam ich an, per Autostopp von Hamburg, Vollmond über den Dächern, der Himmel sternenklar, leichter Frost. Eine herrliche Nacht. Ich kostete die Luft, die rein und kalt war wie Gletscherwasser, sogar mitten in der Altstadt mit ihren muffigen Mauern, und ich wollte noch nicht nach Hause, also streifte ich durch die Straßen auf der Suche nach einer Gelegenheit, einer Liebschaft, einem Glücksspiel – was auch immer. Eine Gelegenheit eben. Nur nicht zur Familie zurück, nur weiter diese Luft trinken. Luft, Luft.
Als die Sirenen heulten, war ich nicht beunruhigt, ich dachte nicht an das Mondlicht, das sich in den Wasserflächen von Trave und Wakenitz spiegelte, die reinste Zielmarkierung, ich dachte an den letzten Feldpostbrief von daheim. Ständig sei Alarm, schon mehr als zweihundert Mal seit Kriegsbeginn, und nichts sei jemals geschehen, keine Flieger weit und breit. Ich war sicher, dass auch diesmal nichts geschehen würde.
Dann das Inferno. Ich sah die Sprengbomben fallen, hörte ihr Singen, ich stand und staunte, während sie die Dachstühle der Häuser bloßlegten – und es gefiel mir.Alles, was geschah, gefiel mir. Wie die Brandbomben das Gerümpel in den Dachböden entzündeten, staubtrockenes Holz, das brannte wie Butterbrotpapier, die Häuser wie Fackeln. Wie die Leute ohne Sinn und Verstand um ihr Leben rannten. Wie die Erde von den Einschlägen bebte. Kaum zwanzig Minuten vergingen, bis sich eine Feuerwand das Ufer der Trave entlang fraß. Dazu unfassbarer Lärm: die Detonationen, das Dröhnen der Maschinen in niedriger Flughöhe, von der Luftabwehr so gut wie unbehelligt, das Prasseln der Flammen, das Bersten von Glas, Glockengeläut und überall Geschrei. Ich bin nicht sicher, aber ich denke, ich habe ebenfalls geschrien, nicht aus Panik, sondern aus Erregung. Es war, als erblickte ich endlich mich selbst. Genauso wie in den brennenden Gassen der Stadt sah es tief in mir aus, hatte es immer schon ausgesehen. Ich war glücklich.
Erst als meine Haare versengten, bemerkte ich den Sturm, ein gieriger Sog hin zum Brandherd, der unentwegt nach Sauerstoff verlangte und mich an euch erinnerte. Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, wart ihr mir nicht gleichgültig oder lästig, im Gegenteil, ich wollte alles wiedergutmachen, euch retten. Welch ein Hohn, dass ihr Kinder die ganze Zeit in Sicherheit wart, während ich lebendig begraben wurde, erst verglühte und dann erfror, verfaulte, erstickte, verdurstete und zerfaserte – alles bei wachem Bewusstsein und ohne zu sterben. Es stank nach dem Tod anderer Leute.
Ich weiß noch, wie ich den Himmel wiedersah: ein milchig heller Tag, die kraftlose Sonne hinter Rauchschwaden, schwefelgelbe Wolken. Wie mich die Lichtflut blendete, als ich erwachte. Ich hatte nicht mitbekommen, dass sie den Schutt abtrugen, Backstein um Backstein. Die Erleichterung, überlebt zu haben.
Zuerst nahm ich euch nicht wahr, so still verhieltet ihr euch. Erst als der Staub euch zum Husten brachte, entdeckte ich euch beide, wie immer unzertrennlich, tiefes Staunen stand in euren Gesichtern, die rußverschmiert und staubig waren, ebenso die Wintermäntel. Euer Haar, sonst rötlich, wenn ich mich recht entsinne, war von einem Ascheschleier überzogen, was euch Kinder wie Greise aussehen ließ. Wie ihr mich angeglotzt habt, minutenlang, ohne euch zu rühren. Ich lag hilflos da. Nur meinen Kopf hattet ihr freigeschaufelt, auf den Gliedern lasteten die Trümmer wie Blei. Zu schwer für euch, aber ihr hättet Hilfe holen können. Hilfe holen müssen. Wenn ihr mich für einen Schuft gehalten habt – was wart dann ihr?
Staub, Staub. Der rauchige Himmel, in großer Höhe Krähen, die über uns kreisten. Ihr hattet Wasser. Ich war durstig, und so sollte es bleiben. Mein Durst ist unstillbar seit diesem Tag.
Plötzlich ging etwas in euch vor. Das Erstaunen wich einem Ausdruck von Entschlossenheit. Ihr wart euch so einig, immer schon,die Eintracht hat mich maßlos provoziert. Ihr habt euch gestrafft, eure Blicke trafen einander. Mich hingegen habt ihr nicht länger angeschaut, nicht anschauen können, weil es euch auf diese Weise leichterfiel, euch wortlos jeder einen Ziegelstein zu greifen und auf mein Gesicht zu legen, und zwar vorsichtig, geradezu sanft, auch mit den nächsten Ziegeln noch. Du hast geweint, genau wie jetzt, wie jedes Mal, wenn du dich daran erinnerst.
Ich hätte nicht fluchen sollen.Als ich anfing zu fluchen, änderte sich euer Verhalten. Nun hattet ihr es eilig, mich mit Schutt zu bewerfen, mich zu knebeln mit Scherben und Putz. Es wurde wieder dunkel. Das Letzte, was ich spürte, bevor ich ohnmächtig wurde, war, wie meine Nase brach.
Lebendig begraben. Ich erwachte etliche Male, mein Sterben zog sich hin, eine furchtbare Prozedur.Anfangs hatte ich Hoffnung, es würde rechtzeitig Hilfe eintreffen, mich zu retten, und ich malte mir aus, wie ich euch verprügeln würde. Auf Schläge würdet ihr gefasst sein, aber nicht auf solche. Ich hatte seit jeher das Bedürfnis, die schlechten Erwartungen, die an mich gerichtet wurden, zu übertreffen.
Je schwächer ich wurde, desto mehr wuchs mein Kummer um mich selbst, und ich fragte mich, warum ihr zu einer solchen Tat fähig wart, beide keine vierzehn Jahre alt. Dabei war die Antwort so einfach: Ihr seid ja meine Kinder.
Lebendig begraben. Nach und nach verloren die Worte ihren Schrecken, um sich schließlich in ein großes Versprechen zu verwandeln. Sie machten mich unsterblich. Ich begriff, wer lebendig begraben wird, ist niemals tot, er existiert weiter bis ans Ende der Zeit. Mein Hass würde nicht verglühen, er hatte erst begonnen, seine Kraft zu entfalten über Generationen hinweg.
So fand ich Frieden. Für Reue und Tränen ist es jetzt zu spät. Mir geht es gut, solange du weiter zuhörst. Und lass die Fenster auf Durchzug.Auch im Winter. Ich brauche viel Luft. Und das Licht, das Radio, lass beides an.Dunkelheit und Stille sind eine Qual für mich, wer will mir das verdenken? Wer? Niemand? Gut so. Wer tot ist, stößt selten auf Widerspruch.